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Vorgetäuschte AU - was nun?

Vorgetäuschte AU

1. Erschütterungen des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Vor der Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2021 war der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) nur schwer angreifbar. Der Arbeitgeber hatte kaum Möglichkeiten, die Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG zu verweigern. 

Nach der Rechtsprechungsänderung des BAG gab es eine instanzgerichtliche Entwicklung, die durch das BAG wiederum bestätigt und fortgeschrieben wurde. 

Demnach können folgende Anhaltspunkte zu einer Beweiserschütterung führen: 

  • Zeitlicher Zusammenhang zwischen Eigenkündigung und postwendender Krankmeldung, ggfs. auch übertragbar auf Fälle arbeitgeberseitiger Kündigungen.
  • Nach problematischen Personalgesprächen, ggfs. auch Abmahnungen oder unliebsamen Arbeitsanweisungen oder bei Aufräumen des Schreibtisches und Rückgabe aller Arbeitsmittel bzw. Mitnahme aller persönlicher Gegenstände unmittelbar vor der Erkrankung.
  • Wiederkehrende Krankschreibung an bestimmten Brückentagen oder für jeweils kurze Zeiträume, wenn die AUB jeweils von verschiedenen Allgemeinmedizinern aus verschiedenen Regionen ausgestellt wurden.
  • Verstoß der AUB gegen bestimmte Vorschriften der Arbeitsunfähigkeits-RL, z.B. ein zu langer attestierter Zeitraum oder unerlaubte Rückdatierungen.
  • Erkrankungen unmittelbar nach Mitteilungen des Arbeitgebers, ein befristetes Arbeitsverhältnis nicht fortführen zu wollen oder Äußerungen, die auf eine manifestierte Beendigungsabsicht schließen lassen.

Insgesamt bleibt die Gesamtbetrachtung des Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände entscheidend.
 

2. Vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit als Kündigungsgrund (§ 626 BGB)

Als Folge der möglichen Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeit (AU) stellt sich natürlich die Frage, inwiefern eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit eine arbeitsrechtliche Pflichtverletzung darstellt. 

Ohne Zweifel sind schwerwiegende Straftaten zulasten des Arbeitgebers geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darzustellen, der eine fristlose Kündigung rechtfertigt. Strafrechtliche und zivilrechtliche Bewertung können aber auch auseinanderfallen. 

Für Vermögensdelikte ist anerkannt, dass diese per se und unabhängig von der Schadenshöhe das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer so zerstören, sodass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis sofort beenden darf. Bei der Interessenabwägung ist nicht die strafrechtliche Bewertung der Tat relevant, sondern der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten – hier die Rücksichtnahmepflicht auf die schützenswerten Interessen des Arbeitgebers gemäß § 241 Abs. 2 BGB.

Wenn es um Erkrankungen des Arbeitnehmers geht, die der Arbeitgeber aufgrund der bereits dargestellten Indizien anzweifelt, sind von der Rechtsprechung verschiedene Fallgruppen thematisiert worden, häufig unter dem Begriff des „Krankfeierns“. Praxisrelevante Beispiele hierfür sind die Androhung einer Arbeitsunfähigkeit, das Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Tat- oder Verdachtskündigung oder der Verstoß gegen die Melde- und Feststellungspflicht des § 5 EFZG (hier bedarf es aber mindestens einer einschlägigen Abmahnung).

Wenn ein Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeit vortäuscht, um Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG zu erhalten und der Arbeitgeber diese im Vertrauen darauf leistet, ist der Tatbestand des Betruges nach § 263 Abs. 1 StGB erfüllt. Leistet der Arbeitgeber keine Entgeltfortzahlung, kommt somit strafrechtlich ein versuchter Betrug in Betracht. Das Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit richtet sich direkt gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers, ist damit genauso zu Bewerten wie jeder andere „Griff in die Kasse“. Damit dürfte in aller Regel eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sein.

Problematisch ist jedoch, dass den Arbeitgeber hinsichtlich der die Kündigung rechtfertigenden Tatsachen die Darlegungs- und Beweislast trifft.

Der Arbeitnehmer macht zunächst durch die Anzeige und Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur einen Anspruch geltend – der Arbeitgeber muss dann beweisen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich nicht arbeitsunfähig war und mit der Krankmeldung konkludent über diese Tatsache getäuscht hat, um Entgeltfortzahlung zu erhalten oder zumindest keine Arbeitsleistung erbringen zu müssen.

Bisherige Rechtsprechung 

Anerkannt ist, dass eine vorsätzlich vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit oder ein hierauf gestützter dringender Tatverdacht einen an sich zur außerordentlichen Kündigung geeigneten Umstand darstellt, auch ohne vorherige Abmahnung.

Wenn der Arbeitnehmer nach entsprechender Krankmeldung einschließlich ärztlicher Feststellung der Arbeit fernbleibt und Lohnfortzahlung annimmt, obwohl die Krankheit in Wahrheit nur vorgetäuscht ist, liegt somit ein wichtiger Grund nach § 626 BGB für eine fristlose Kündigung vor. Regelmäßig begeht der Arbeitnehmer sogar einen vollendeten Betrug, da er durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung den Arbeitgeber unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu veranlasst, ihm unberechtigterweise Lohnfortzahlung zu gewähren.

Der soeben beschriebene Verstoß gegen die arbeitsrechtlichen Rücksichtnahmepflichten nach § 241 Abs. 2 BGB wird oftmals nicht nur für den „wichtigen Grund“ gemäß § 626 Abs. 1 BGB ausreichen, sondern auch die Interessenabwägung zulasten des Arbeitnehmers ausfallen lassen.

Dass die Rechtsprechung von einer zumindest konkludenten Täuschungshandlung ausgeht, impliziert ein vorsätzliches Verhalten.

Fraglich ist jedoch, wie mit Fällen umgegangen werden muss, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich an eine Krankheit glaubt oder einem Zustand irrigerweise Krankheitswert beimisst. Hier ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig, die prüft, welche Angaben gegenüber dem Arzt gemacht wurden und ob dieser eventuell vorschnell eine Diagnose gestellt hat.

Wichtig zu beachten ist, dass nicht nur vorsätzliches Verhalten eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann – auch leichtfertiges oder grob fahrlässiges Verhalten ist grundsätzlich dazu geeignet. Der Arbeitgeber trägt das Schadensrisiko aufgrund von Entgeltfortzahlungspflicht und Personalausfall. Daher können vom Arbeitnehmer erhöhte Sorgfaltspflichten verlangt werden, was die Einschätzung seiner Arbeitsfähigkeit und die beim Arzt gemachten Angaben betrifft.

Aus diesen Gründen erscheint es sachgerecht, dass auch ohne gesonderte Prüfung des Vorsatzes, eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit regelmäßig ausreicht, um eine fristlose Kündigung zu begründen. Im Rahmen einer Bewertung ist auch zu berücksichtigen, dass die erforderlichen Indizien, die erst zu einer Erschütterung des Beweiswert der AUB führen, regelmäßig schon für ein vorsätzliches Verhalten des Arbeitnehmers sprechen.

Auswirkungen der Rechtsprechungsänderung des 5. Senats bei der Entgeltfortzahlung 

Wie bereits zu Beginn geschildert, hat der für Entgeltfortzahlungsrecht zuständige 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts sowie die nachfolgende instanzgerichtliche Rechtsprechung seit dem Jahr 2021 die an sich ausreichenden Indizien für eine Erschütterung des Beweiswerts der AUB erheblich ausgeweitet. 

Für die Praxis besonders relevant ist die Frage, ob diese Rechtsprechungsänderung auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung zur fristlosen Kündigung haben wird.

Dass die Hürden für eine Kündigung nach § 626 BGB sehr hoch sind und nur in den schwerwiegendsten Fällen eine fristlose Kündigung gerechtfertigt sein soll, zeigt sich auch in der Darlegungs- und Beweislast. Für das Vorliegen der eine solche Kündigung rechtfertigenden Vertragsverletzung trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast.

Die Situation beim Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG ist umgekehrt. Hier muss der Arbeitnehmer grundsätzlich den Vollbeweis führen. Hierfür steht ihm normalerweise die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zur Verfügung, was bei Erschütterung deren Beweiswerts aber gerade nicht der Fall ist.

Wenn der Arbeitgeber aufgrund einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit kündigt, genügt es somit nicht, den Beweiswert zu erschüttern, sondern er muss auch den Vortrag des Arbeitnehmers zu der vermeintlichen Arbeitsunfähigkeit bzw. Erkrankung widerlegen.

Hat der Arbeitgeber im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses Indizien vorgetragen, die eine Erschütterung des Beweiswerts der AUB rechtfertigen (vgl. die oben genannten Beispiele), trifft den Arbeitnehmer die sekundäre Darlegungslast gemäß § 138 Abs. 2 ZPO und er muss zu den Ursachen seiner Abwesenheit vortragen, indem er beispielsweise die Krankheitsursachen schlüssig darlegt, die ihn arbeitsunfähig gemacht haben.

Dieses Wechselspiel der Darlegungslast ist deshalb gerechtfertigt, weil die Erkenntnismöglichkeiten zur Erkrankung ausschließlich in der Sphäre des Arbeitnehmers liegen, und er daher der einzige ist, dem Vortrag hierzu möglich ist.

Dazu muss der Arbeitnehmer substantiiert darlegen, warum sein Fehlen als entschuldigt anzusehen ist. Der Arbeitgeber muss dann ausschließlich diese behaupteten Tatsachen widerlegen. 

Wenn es dem Arbeitgeber allerdings gelingt, den Beweiswert der AUB zu erschüttern oder zu entkräften, dann tritt hinsichtlich der Beweislast wieder der Zustand vor der Vorlage der AUB ein. In der Folge muss der Arbeitnehmer den Beweis der Arbeitsunfähigkeit führen, ohne die Möglichkeit der AUB als Beweismittel. Dafür muss der Arbeitnehmer genau ausführen, welche Krankheiten tatsächlich vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben, welche Verhaltensmaßregeln der Arzt gegeben hat und welche Medikamente beispielsweise bewirkt haben, dass er immer noch nicht arbeitsfähig war, aber gegebenenfalls zu anderen, leichten Tätigkeiten in der Lage war. Erst wenn der Arbeitnehmer auf diese Weise seiner Substanziierungspflicht nachgekommen ist oder gegebenenfalls den behandelnden Arzt von seiner Schweigepflicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber aufgrund der ihm obliegenden Beweislast den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers widerlegen.

Es stellt sich nun die Frage, was der Arbeitnehmer im Einzelfall vortragen muss, um seiner sekundären Beweislast ausreichend nachzukommen.

Das BAG hat in seiner Ausgangsentscheidung 1993 vorgegeben, dass der Arbeitnehmer die physischen und psychischen Hintergründe darzustellen hat, die ihn an der Arbeitsleistung gehindert haben. In der Folge wurde bereits festgestellt, dass die Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht nicht ausreicht, sondern der Arbeitnehmer laienhaft seine Beschwerden darstellen muss, das heißt er muss die Krankheiten und gesundheitlichen Einschränkungen beschreiben und welche Medikamente oder Verhaltensregeln dafür verordnet wurden.

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB im Rahmen der Geltendmachung von Entgeltfortzahlung müsste ein Arbeitnehmer im Rahmen seiner sekundären Beweislast folgendes vortragen:

  • Konkrete Tatsachen, die den Schluss auf jedenfalls eine bestehende Erkrankung zulassen, die nicht nur vorliegen, sondern auch zur Unfähigkeit führen mussten, die konkret geschuldete Tätigkeit im gesamten Zeitraum der vermeintlichen Erkrankung auszuüben. Die bloße Behauptung von ICD-Codes und sonstigen Schlagworten (bspw. „Schlafstörungen, Durchfall, etc.“) reicht hierfür nicht aus.
  • Darlegung zu Art, Umfang und Intensität der gesundheitlichen Einschränkungen sowie dazu, wie eine ärztliche Feststellung nach Maßgabe der Arbeitsunfähigkeits-RL erfolgte.
  • Empfohlene Therapiemaßnahmen/Behandlungsmethoden und sonstige empfohlene Heilbehandlungen oder ärztlich angeordnete Verhaltensmaßregeln samt deren Einhaltung oder Begründung der Nichteinhaltung.

Als „Negativvoraussetzung“ darf im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die schlüssig behauptete Erkrankung nicht widerlegt sein bzw. widersprüchlich erscheinen.

Feststellung und Darlegung ausreichender Erschütterungsindizien durch den Arbeitgeber

Für die prozessuale Darlegung stellt sich außerdem die Frage, welche Ermittlungsmaßnahmen der Arbeitgeber zur Beweisgewinnung heranziehen darf, um für den Prozess vor dem Arbeitsgericht verwertbare Beweismittel zu erhalten. Denkbar sind zum Beispiel Befragungen von Kollegen, gezielte Auswertung von Social Media oder der Einsatz eines Detektivs.

Ermittlungen „ins Blaue hinein“ ohne konkrete Anhaltspunkte dürften zu prozessual unverwertbaren Ergebnissen führen. Wenn jedoch konkrete Anhaltspunkte den Verdacht einer schweren arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung begründen, darf dem nachgegangen werden. 

Praxisrelevant sind z.B. anonyme Hinweise von Kollegen, welche Bemerkungen des Arbeitnehmers mitbekommen haben, oder die Zusendung von Screenshots oder Fotos aus Social Media Portalen, die den Arbeitnehmer beim Feiern oder ähnlichen Aktivitäten zeigen. Solchen Hinweisen darf nachgegangen werden und derartige Umstände rechtfertigen im Rahmen der Erforderlichkeit und Angemessenheit arbeitgeberseitige Aufklärungsmaßnahmen bis hin zum Detektiveinsatz.

Auch ohne Hinweise Dritter sind Konstellationen denkbar, in denen der Verdacht arbeitsvertragswidrigen Handelns Aufklärungsmaßnahmen erfordert. Beispielsweise bei einer Krankmeldung unmittelbar im Anschluss an eine Eigenkündigung oder bei anderen Indizien für eine Erschütterung des Beweiswerts der AUB.
 

3. Prozesstaktische Erwägungen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Arbeitgeber in nachgewiesenen Fällen unzutreffender AUB reagieren können:

Bei Krankmeldung während eines noch laufenden, aber bereits ordentlich gekündigten Arbeitsverhältnisses kommt eine arbeitgeberseitige, fristlose Kündigung in Betracht. 

Wehrt sich der Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess gegen eine arbeitgeberseitige Kündigung, kann ein Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG möglich sein.

Daneben ist auch eine Strafanzeige wegen des Verdachts eines (versuchten) Betrugs gemäß § 263 Abs. 1, 2 StGB sowie wegen des Verdachts des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses gemäß § 279 StGB denkbar. Eine Strafbarkeit des behandelnden Arztes wegen Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach § 278 Abs. 1 StGB kommt ebenfalls in Betracht.

Auch eine Information der Ärztekammer über Verdachtsmomente unzutreffender Befunde ist denkbar.

Bei gesetzlich Versicherten kann zudem die Krankenkasse informiert werden, die den Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit nach § 275 Abs. 1 SGB V mithilfe des Medizinischen Dienstes nachgehen muss. Dies kann zum Wegfall etwaigen Krankengeldanspruchs des Arbeitnehmers führen, was den Arbeitgeber zwar nicht unmittelbar finanziell entlastet, aber die Versichertengemeinschaft.
 

4. Fazit

  • Nicht nur den „gelben Schein“ gibt es nicht mehr – auch sein faktisch unerschütterlicher Beweiswert ist verschwunden.
  • Für Arbeitgeber lohnt es sich, bei auffälligen Attesten genauer hinzusehen, und bei Vorliegen von Indizien gegen den Arbeitnehmer vorzugehen.
  • Eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit führt nicht nur zum Wegfall des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung, sondern kann auch einen Grund für eine fristlose Kündigung darstellen.